Die 4 grössten Vorurteile gegenüber Individualsoftware

Donnerstag, 5. Oktober 2017 – Reto Gurtner

Bei den meisten Digitalisierungsideen geht es heute darum einen Geschäftsprozess zu digitalisieren, ein Geschäftsmodell zu automatisieren, Daten zu sammeln oder Unternehmen und Ihre Kunden näher zusammenzubringen.

Um die definierten Ziele zu erreichen, braucht Digitalisierung praktisch immer Software. Ja, klar: software eats the world.

Damit fängt das Kopfzerbrechen aber meistens erst an: Gibt es eine Standardsoftwarelösung für unsere Idee? Welches Halb- oder Fertigfabrikat können wir so verbiegen, dass es zu unserer digitalen Strategie passt? Wo können wir unsere Idee so anpassen, dass Sie auf der Standardlösung funktioniert? Haben wir überhaupt noch einen Wettbewerbsvorteil, wenn wir die gleiche Software verwenden wie unsere Mitbewerber? Wissen wir überhaupt schon abschliessend, wo die Reise hingehen soll? Ist nur eine Individualsoftware der richtige Lösungsweg?

Die Diskussion Standardsoftware oder Individualsoftware ist nicht neu und begleitet die IT-Welt (früher noch EDV genannt) wohl seit Anbeginn. In unseren Gesprächen mit den Schweizer KMU stellen wir fest, dass das Thema gerade jetzt in der aktuellen Digitalisierungswelle wieder eine Renaissance erlebt. Rund um Individualsoftware halten sich aber auch verschiedene hartnäckige Vorurteile. Ob diese tatsächlich zutreffen? Wir gehen der Sache auf den Grund.

Vorurteil 1: Individualsoftware ist teuer

Auf den ersten Blick können Standardsoftwarelösungen suggerieren, dass Sie günstiger sind. Man kauft ja einfach die Lizenz, installiert die Software und kann loslegen. Leider ist es in der Regel nicht so einfach. Aus unserer Erfahrung werden die Implementationskosten für die Anpassung der Standardsoftware notorisch unterschätzt. Praktisch jede Software muss mit Umsystemen integriert oder auf eigene Prozesswünsche adaptiert werden. Oftmals müssen anschliessend auch gewisse Prozesse auf die Standardsoftware angepasst werden, weil es nicht anders geht. Dies hat den Effekt, dass Mitarbeiter andere Arbeitsabläufe erlernen müssen und dadurch Effizienz oder die anvisierten Wettbewerbsvorteile aus dem Digitalisierungsprojekt gleich wieder verpuffen.

Diese Kosten laufen schnell aus dem Ruder. Zudem führen die Einschränkungen und Vorgaben von Standardsoftware nicht selten zu nur halbwegs befriedigenden Lösungen.

Kosten Standardsoftware vs. Individualsoftware

Die Kosten für eine Standardlösung setzen sich typischerweise aus folgenden Teilen zusammen:

  • Initiale Lizenzkosten
  • Wiederkehrende Lizenzkosten
  • Zusätzliche Lizenzkosten bei späteren Erweiterungen (zum Beispiel Einführung eines neuen Moduls)
  • Adaptionskosten (Projektkosten)
  • Betriebskosten
  • Kosten für Upgrades auf den nächsten Release

Im Verleich dazu bestehen die Kosten bei einer Individualsoftware aus folgenden Positionen:

  • Projektkosten
  • Betriebskosten
  • Kosten nächste Releases und Erweiterungen

Ja, auch bei Individualsoftware können wiederkehrende Kosten auf Sie zukommen. Im Unterschied zu der Standardsoftware sind dies aber nicht Lizenzkosten, sondern Geld das 1:1 in neue Funktionalitäten und Erweiterungen Ihrer Individualsoftware fliesst. Zusätzlich besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass Sie diese Investitionen aktiv steuern können. Wenn Sie keine Erweiterungen brauchen oder das Investitionsbudget gerade etwas mager ist, haben Sie die volle Kontrolle darüber. Bei Standardsoftware mit Lizenzen kommen die wiederkehrenden Kosten regelmässig ohne neue Features. Die Pauschalaussage, dass Individualsoftware teuerer ist, stimmt so also nicht.

Wenn man die Gesamtkosten über einen längeren Zeitraum betrachtet (z.B. 3 Jahren), dann kann die Individualsoftware kostenmässig vielfach mithalten oder sogar effizienter sein. Wichtig ist, dass man für die Beurteilung wirklich alle Kostenaspekte der Standardsoftware mit einbezieht.

Vorurteil 2: Bei Individualsoftware habe ich eine höhere Abhängigkeit zum Lieferanten

"Wenn ich eine Individualsoftware erstellen lasse, dann ist das wie eine gemeinsame Hochzeit mit dem Lieferanten. Bis der Tod uns scheidet". Dem Risiko als Auftraggeber von einem Lieferanten zu stark abhängig zu sein ist immer genügend Rechnung zu tragen. Niemand mag das "Lock-In"-Prinzip. Jedoch ist das Risiko bei einer Individualsoftware nicht unbedingt grösser als bei einer Standardsoftware. Eher im Gegenteil. Wie oben erwähnt müssen Standardsoftwarelösungen immer stark an die Bedürfnisse des Kunden angepasst werden. Diese Anpassungen sind oftmals derart spezifisch und komplex, dass ein anderer Lösungsanbieter nur mühsam die Standardlösung von seinem Vorgänger übernehmen und weiterentwickeln kann. Bei einer Individualsoftware kann eine Übergabe sogar einfacher sein, weil man typischerweise den kompletten Quellcode zur Verfügung hat. Das erleichtert einem neuen Lösungsanbieter zu verstehen, was die Software eigentlich genau macht. Wir von bambit liefern zusätzlich zu dem Quellcode auch eine Architekturdokumentation nach Arc42 ab.

Wird die Individualsoftware mit einer verbreiteten Basistechnologie realisiert (zum Beispiel Microsoft .NET), dann ist die Auswahl an möglichen alternativen Lieferanten sogar grösser.

Es gibt auf dem Markt noch viel mehr Anbieter mit Microsoft .NET KnowHow als zum Beispiel Anbieter mit spezifischen Microsoft SharePoint KnowHow.

Vorurteil 3: Projekte mit Individualsoftware sind kompliziert und dauern lange

"Die Entwicklung von Individualsoftware dauert eine gefühlte Ewigkeit". Bei Individualsoftware denken viele an die vorgängige Generierung von einer Vielzahl an Dokumenten (Lastenheft, Pflichtenheft, funktionale Dokumentation etc.), bevor man nach einer langen Zeit mal ein erstes Ergebnis zu Gesicht bekommt. Verzögerungen sind bei so einem Vorgehen vorprogrammiert und ob die Software so am Ende wirklich das macht, was sie machen sollte, um einen effektiven Mehrwert zu generieren, ist sicherlich fraglich.

Moderne agile Softwareentwicklungsmethodiken (z.B. Scrum oder Kanban) adressieren genau dieses Problem, dass man noch aus den Wasserfall-Zeiten kennt. Durch kurze Iterationen (3-4 Wochen), klare Prioritäten und dem regelmässigen erstellen von "shipplabe" Software (d.h. die ausgelieferten Resultate sind getestet und produktionsreif) am Ende jeder Iteration, erhalten Sie sehr schnell sichtbare Resultate. Dadurch entsteht ein Prozess mit regelmässigen Feedbackschleifen, kontinuierlicher Qualitätssicherung und höchstmöglicher Flexibilität. Neue Business-Erkenntnisse und Zieljustierungen können so laufend in das Projekt (z.B. in die nächste Iteration) einfliessen. Durch die Unterteilung des Projektes in Iterationen kann der Releaseplan aktiv gesteuert werden. Ein Teil der Software muss bis in 4 Monaten fertig sein? Ein weiterer Teil (zusätzliche Features) können noch länger warten? Das Management will Feature XYZ doch schon früher haben?

Dank agiler Softwareentwicklung fliessen Priorisierungen, neue Wünsche und neue Ideen auf natürliche Art und Weise in Ihre Individualsoftware ein. Ob ein Projekt länger dauert oder nicht können Sie also effektiver mitgestalten.

Geht agile Softwareentwicklung nur mit Individualsoftware? Natürlich nicht! Individualsoftware bietet aber eine grössere Freiheit punkto der Workpackages und Prioritäten.

Vorurteil 4: Individualsoftware kommt nur für grössere Unternehmen in Frage

"Eine Individualsoftware? Dafür sind wir als KMU doch viel zu klein". Unabhängig von der Kostendiskussion, hält sich auch diese Meinung hartnäckig, dass nur grosse Unternehmen sich mit Individualsoftware beschäftigen sollten. Individualsoftware wird assoziiert mit kompliziert und zu überdimensioniert für ein KMU.

Gerade die KMU ziehen Ihren Wettbewerbsvorteil daraus, dass Sie schlankere Prozesse und andere Arbeitsabläufe als die Grosskonzerne haben.

Dinge anders verrichten, kosteneffizienter arbeiten, mehrere Rollen auf weniger Personen verteilen... alles Mittel, die einem KMU das Überleben sichert und das grosse Innovationspotenzial ausmacht. Gerade hier kann Individualsoftware das Potenzial so richtig entfalten. Individualsoftware passt sich zu 100% auf die eigenen Prozesse und Bedürfnisse an und nicht umgekehrt.

Aufkommen von Individualsoftware am Beispiel E-Commerce

Die Schweiz digitalisiert sich. Vorne mit dabei ist das Thema E-Commerce. Wohl die meisten haben im Jahr 2017 bereits einmal in einem Onlineshop ein Produkt gekauft, eine Ferienwohnung über das Internet gebucht oder sonstige Transaktionen online abgeschlossen. Wenn man ein paar Personen aus seinem Umfeld fragt, was denn alles zu einem Onlineshop gehört, kommen mit hoher Treffsicherheit Aussagen wie: Produktbilder, Beschreibungstexte zu einem Produkt, Suchfunktionen, "Kunden die das gekauft haben, kauften auch das" usw. Auch, wenn man sich die gängigen Onlineshops so anschaut, erkennt man schnell Muster von wiederkehrenden Funktionalitäten. Funktionen, die sich immer wieder wiederholen sind doch prädestiniert für eine Standardsoftware? Somit nehmen wir doch einfach ein standardisiertes Onlineshop-System wie nopCommerce oder Magento und haben unseren Onlineshop?

Rund um die Onlineshop-Systeme in der Schweiz veröffentlich die Firma Carpathia jährlich interessante Statistiken. Die jüngste Veröffentlichung vom Juli 2017 zeigt im Bereich E-Commerce ein interessantes Bild: http://blog.carpathia.ch/2017/07/01/jeder-zweite-onlineshop-ist-eine-eigenentwicklung-und-nur-wenige-verzichten-auf-ein-pim/

  • Praktisch die Hälfte der Schweizer Onlineshops setzen auf eine Individualsoftware (komplette Eigenentwicklung oder ein derart stark angepasstes Standard-Shopsystem, dass es sich defacto um eine Eigenentwicklung handelt)
  • Im Vergleich zu 2015 haben die Eigenentwicklungen im 2017 sogar stark zugenommen
  • Der Trend Richtung Individualsoftware zeigt sich nicht nur in den Onlineshop-Systemen, sondern auch in den angrenzenden Systemen wie zum Beispiel PIM-Systemen (Product Information Management) oder ERP-Systemen (Enterprise Resource Planning)

Irgendwie erstaunlich… oder doch nicht? Wie eingangs erwähnt, geht es heute bei vielen Digitalisierungsvorhaben darum einen Geschäftsprozess oder ein Geschäftsmodell zu automatisieren. Diese bewegen sich in der Regel über verschiedene Systeme, Organisationseinheiten und Unterprozessen hinweg. Aus Sicht einer Softwarelösung ist also die Integration in diese Gegebenheiten ein zentraler Schlüsselfaktor zum Erfolg. Hier kann Individualsoftware punkten: Individuell auf die eigene Ausgangslage zugeschnitten, kann Sie Projektziele effizienter adressieren. Offenbar auch in dem Umfeld rund um E-Commerce.

Individualsoftware - Immer die bessere Lösung?

Wir sind der Meinung: Nein! Es gibt immer wieder Anforderungen, die sich mit Standardsoftware durchaus ideal abdecken lassen.

Sind mehrere der nachfolgenden Punkte erfüllt, sollte man sich aber die Frage stellen, ob es nicht eine Individualsoftware die passendere Lösung ist:
  • Wenn statt einer Individualsoftware ein Monolithisches-System eingeführt werden muss.
  • Wenn für Module oder Funktionen Lizenzen bezahlt werden müssen, die Sie gar nicht einsetzen wollen.
  • Wenn der Hauptvorteil der Softwarelösung in der Effizienzsteigerung Ihrer Prozesse liegen soll
  • Wenn viele Drittsysteme (Umsysteme) vorhanden sind, die integriert werden müssen
  • Wenn die Adaptionskosten die eigentlichen Lizenzkosten um ein Vielfaches übersteigen
  • Wenn mehr als 40% der Anforderungen mit der Standardlösung nicht abgedeckt werden können, ohne grosse Adaptionen zu machen.

Fazit

Die pauschalisierten Vorurteile gegenüber Individualsoftware stimmen so nicht. Bei genauer Betrachtung kann Individualsoftware sogar günstiger sein als Standardsoftware. Der grösste Unterschied besteht darin, dass das investierte Geld 1:1 in Funktionen fliesst, die dem Projekt und Unternehmen einen direkten Mehrwert bieten. Mittels agilen Methodiken lässt sich die Komplexität und die Timeline für ein Individualsoftware-Projekt ideal managen. Durch verschiedene Iterationen kann der Projektverlauf fortlaufend mit den Erkenntnissen aus dem Business aligniert werden.

Individualsoftware hat dort seine Stärken, wo es darum geht, auf unternehmensspezifische Prozesse und Rahmenbedingungen einzugehen. Gerade bei KMU liegen in diesen Individualitäten die Wettbewerbsfähigkeit und das Innovationspotenzial. Dass Individualsoftware also nur etwas für Grossunternehmen sein soll, ist falsch.

Trotzdem ist Individualsoftware nicht immer die bessere Lösung. Nur, wenn die richtigen Voraussetzungen gegeben sind, macht eine Individualsoftware sinn.

Beschäftigen Sie sich mit dem Thema Individualsoftware? Haben Sie ein konkretes Individualsoftware-Projekt? Möchten Sie sich mal mit Profis austauschen?